Rechtliche Bewertung der Corona-Maßnahmen

Deutschland war von einer weltweiten Pandemie mit zahlreichen Todesopfern betroffen. Bei der Bekämpfung der Pandemie schränken die (Landes-)Regierungen zahlreiche Grundrechte flächendeckend und langanhaltend ein. Ist das legitim? Mit dieser Frage befassen sich Zehntausende Gerichtsurteile, darunter auch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts.

Die grundlegende Aufgabe dieser Entscheidungen ist eine Abwägung: Einerseits ist es eine wichtige Aufgabe des Staates, die Gesundheit seiner Bürger*innen zu schützen. Andererseits dürfen die ebenso wichtigen Freiheitsrechte dieser Aufgabe nicht grundsätzlich untergeordnet werden. Der ehemalige Präsident des Bundesverwaltungsgerichts wird mit der Einschätzung zitiert, er halte das Gros der Maßnahmen für evident verfassungswidrig.[1] Hier finden sich Erklärungen und Argumente, um diese starke Aussage überprüfen zu können.

Inhalt

Wie viele Todesopfer und sonstige Schäden hat die Pandemie bislang in Deutschland verursacht?

Seit März 2020 sind in Deutschland knapp 135.000 überwiegend hochbetagte Menschen an bzw. mit dem Corona-Virus gestorben.[2] Die Übersterblichkeit (d.h. die Zahl der Menschen, die über die übliche Zahl an jährlichen Todesopfern hinausgeht) in Deutschland ist während der Pandemie nur geringfügig erhöht (im Herbst 2018 war sie höher).[3] Fast 190.000 Menschen wurden intensivmedizinisch behandelt.[4] Eine noch nicht näher bestimmte Anzahl an Menschen leidet an Long Covid, das sich durch Symptome wie Atemnot, Muskelschwäche und Depression auszeichnet.[5]

Die außergewöhnlich schweren Einschränkungen des öffentlichen wie privaten Lebens haben umfassende Schäden zufolge. Dazu gehören u.a. eine Steigerung häuslicher Gewalt während des Lockdowns[6]  und erhebliche wirtschaftliche Schäden durch unterbrochene Lieferketten, Entlassungen und Kurzarbeit.[7] Einen umfassenden Überblick über die Kollateralschäden der Maßnahmen findet sich im Gutachten des gemäß dem Infektionsschutzgesetz eingesetzten Sachverständigenrates.[8]

Die Einschränkungen treffen auch die Amateurmusik: Einige Ensembles haben infolge der Konzertverbote empfindliche finanzielle Einbußen erlitten und ihren Dirigenten / ihre Dirigentin verloren. Die meisten Ensembles, die Kinder und Jugendliche in ihren Reihen haben, stehen vor erheblichen Nachwuchsproblemen, da die musikalische Ausbildung zwei Jahre lang nicht oder nur eingeschränkt stattfinden konnte und die für die Bindung an das Ensemble so wichtige Kontinuität weggebrochen ist. In diesem Bereich ist erhöhte Sensibilität auch für das Wohlergehen der jungen Musiker*innen erforderlich, weil die Pandemiezeit zu einer – massiven Zunahme u.a. von Depressionen und Entwicklungsverzögerungen bei Jugendlichen und Kindern geführt hat.[9]

Was sind Grundrechte?

Grundrechte (Artikel 1 – 19 Grundgesetz) sind in erster Linie Abwehrrechte gegenüber dem Staat. Sie erlauben den Bürger*innen, ihr Leben frei zu gestalten, also z.B. ohne staatliche Vorgaben zu sagen, zu glauben oder zu arbeiten, was sie möchten.

Eine Gesellschaft, in der jede*r jederzeit alle Grundrechte voll auslebt, ließe sich kaum organisieren. Deswegen kann es durchaus legitim sein, unter bestimmten Voraussetzungen die Grundrechte des/der Einzelnen zugunsten von Grundrechten anderer Menschen zu beschränken. Allein die Menschenwürde ist unantastbar, hier dürfen keine Kompromisse gemacht werden.

Welche Grundrechte werden durch die Corona-Maßnahmen verletzt?

Die Auflagen und Verbote zur Eindämmung der Pandemie verletzen zahlreiche Grundrechte in unterschiedlicher Intensität. Die Pflicht, eine Maske zu tragen, bedeutet eine leichte Beeinträchtigung der allgemeinen Handlungsfreiheit; die Schließung z.B. von Restaurants bedeutet eine sehr starke Verletzung der Berufsfreiheit und der Eigentumsfreiheit. Die Amateurmusikszene darf nicht oder nur sehr eingeschränkt proben und konzertieren. Deswegen sind ihre Mitglieder insbesondere in der Kunstfreiheit stark betroffen. Auch Amateurorchester vermitteln Kunst und schaffen durch ihre Interpretationen selbst Kunst, sodass sie sich auf Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes berufen können: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“[10]

Insgesamt beeinträchtigen die Maßnahmen folgende Grundrechte: die allgemeine Handlungsfreiheit, die Religionsfreiheit, die Kunstfreiheit, die Freiheit von Forschung und Lehre, den Schutz von Ehe und Familie, die Versammlungsfreiheit, die Freizügigkeit, die Berufsfreiheit, die Unverletzlichkeit der Wohnung und die Eigentumsfreiheit. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik sind so viele Grundrechte von so vielen Menschen in einem solchen Ausmaß eingeschränkt worden.[11]  Mit jedem Tag, den die Maßnahmen aufrechterhalten werden, werden die Grundrechtsbeschränkungen tiefer und damit zweifelhafter.[12]

Sind diese Grundrechtsverletzungen gerechtfertigt?

Angesichts der Bedrohung durch die Pandemie könnten die Grundrechtsverletzungen aber gerechtfertigt sein. Dafür müssen die Corona-Verordnungen bzw. ihre einzelnen Maßnahmen, die im Wesentlichen eine starke Kontaktbeschränkung bedeuten, vier Kriterien erfüllen.

Legitimer Zweck

Die Maßnahmen müssen dem Gemeinwohl dienen. Das ist zu bejahen. Die Maßnahmen zielen (in allerdings wechselnden und ungenauen Formulierungen des § 28a IfSG)[13] auf den Schutz der Gesundheit und auf den Erhalt eines leistungsfähigen Gesundheitssystems, damit möglichst viele erkrankte Menschen behandelt werden können. Damit will der Staat seiner grundlegenden Pflicht nachkommen, Leben und Gesundheit seiner Bürger*innen zu schützen.[14] Diese Pflicht verlangt vom Staat vor allem, die Bürger*innen vor Angriffen anderer Menschen (z.B. durch Gewalt oder Umweltgifte) zu schützen.[15] Vor allgemeinen Lebensrisiken (z.B. Haushaltsunfällen oder individuellen Erkrankungen) und vor Naturkatastrophen muss der Staat die Bürger*innen nicht schützen, einfach, weil er nicht überall sein und alles beherrschen kann. Das Sozialstaatsprinzip verpflichtet den Staat aber, das Existenzminimum zu sichern, die Bürger*innen also vor Epidemien zu schützen und sie bei eingetretener Krankheit zu unterstützen.[16]

Geeignetheit

Die Maßnahmen müssen geeignet sein, ihren Zweck zu erreichen. Es muss also zumindest möglich sein, dass sie einen Beitrag zur Eindämmung von Covid-19 leisten.

Hier kann man zwar Zweifel anführen, weil sich kaum eine Korrelation zwischen den strengen Kontaktbeschränkungen und den Infektionszahlen zeigt, geschweige denn ein Rückgang der Ansteckungen. Umgekehrt lässt sich mangels Vergleichsgruppe nicht feststellen, ob die Zahlen ohne oder bei anderen Maßnahmen noch höher wären. Allerdings darf das Parlament weitgehend alleine entscheiden, was es für geeignet hält. Ein Gericht wäre hier nur bei evidenten Fehleinschätzungen entscheidungsbefugt, weil die Frage der Geeignetheit nicht nach rechtlichen, sondern nach politischen Kriterien entschieden wird. Dies gebietet die Gewaltenteilung zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung. Es ist durchaus naheliegend, die Verbreitung eines Virus durch Kontaktbeschränkungen unterbinden zu wollen. Also dürfen die Maßnahmen als geeignet gelten.

Erforderlichkeit

Staatliche Eingriffe in Grundrechte dürfen nur so geringfügig wie nötig sein. Wenn es eine Alternative gibt, die weniger einschränkend, aber genauso wirksam ist, wären schärfere Maßnahmen unzulässig. Auch hier darf aufgrund der staatlichen Gewaltenteilung das Parlament weitgehend selbst beurteilen, was als „milder, aber gleich wirksam“ gelten soll, ohne dass die Gerichte enge Vorgaben machen dürften. Die Gerichte müssen also überlegen, ob das Parlament weniger einschränkende Mittel hätte wählen können. Sie müssen prüfen, ob das Parlament im Gesetzgebungsprozess solche Alternativen erwogen hat.

Das Tragen von Masken und die Einhaltung von Abstand sind im Vergleich zu vollständigen Kontaktbeschränkungen mildere Mittel. Solange jedoch unklar ist, ob sie genauso gut geeignet sind wie vollständige Kontaktbeschränkungen, hat der Gesetzgeber auch hier einen Beurteilungsspielraum, in den die Gerichte kaum eingreifen dürfen.[17] Deswegen kann man die Maßnahmen für erforderlich halten.

Angemessenheit

Die Maßnahmen dürfen nicht außer Verhältnis zum angestrebten Ziel stehen. Dazu muss man zwischen verschiedenen Grundrechten abwägen. Auf der einen Seite stehen die betroffenen Grundrechte (im Hinblick auf die Laienmusikszene insbesondere die Kunstfreiheit, aber auch die Religionsfreiheit und die allgemeine Persönlichkeitsfreiheit) und die Intensität des Eingriffs (angesichts von Proben- und Konzertverboten: sehr stark). In der anderen Waagschale liegt das Interesse aller an Gesundheit und einem leistungsfähigen Gesundheitssystem. Hier werden einige generelle Aspekte für diese Abwägung angeführt:

Grundlegend ist dabei zu bedenken, dass der Schutz von Gesundheit und Leben neben den Freiheitsrechten einen Höchstwert der Verfassung darstellt.[18] Es würde nicht dem Wertebild des Grundgesetzes entsprechen, den Menschen auf das nackte (Über-)Leben zu reduzieren. Sogar der elementare Schutz von Gesundheit und Leben darf also nicht grundsätzlich über Freiheitsrechte gestellt werden, die ein Leben in Würde erst ermöglichen.

Ebenso grundsätzlich gilt: Je länger die Einschränkungen andauern, umso höher werden die Anforderungen an ihre Rechtfertigung. Denn je länger eine Grundrechtsverletzung andauert, desto intensiver ist sie auch. Dabei muss auch berücksichtigt werden, dass die Krankenhäuser seit April 2020 deutlich besser für Corona-Patient*innen ausgestattet sind und neue Medikamente entwickelt worden sind, sodass eine Überlastung des Gesundheitssystems mittlerweile weniger stark zu befürchten ist.[19]

Auch ist zu bedenken, dass die Beeinträchtigung von Grundrechten verschärft wird, wenn gesunde Menschen zur Gefahrenabwehr herangezogen werden, die keinen Anlass dazu geben, gegen sie vorzugehen. Nur in Ausnahmefällen darf der Staat gegen einzelne Personen vorgehen, die nichts mit der Gefahr zu tun haben.

Die Abwägung darf dabei nicht abstrakt zwischen dem Schutz von Leben und Gesundheit einerseits und den Freiheitsgrundrechten andererseits erfolgen. Vielmehr muss das Augenmerk auf den konkreten Beitrag einer bestimmten Maßnahme zur Erreichung des Ziels gelegt werden. Es wäre also falsch, dem Handeln Einzelner die Folgen für die Gesamtheit der Bundesbürger*innen oder der Bevölkerung in einem Bundesland gegenüberzustellen. Schließlich kann jede*r Einzelne nur einen individuellen Beitrag für das Gemeinwohl leisten, aber nicht die Verantwortung für das Wohlergehen aller tragen, zumal wenn dies den Verzicht auf die Ausübung von Grundrechten bedeutet. Richtig ist es daher, entweder die Freiheitseinschränkungen Einzelner mit deren Anteil am Gemeinwohl-Beitrag dieser Maßnahmen abzuwägen oder den gesamten Nutzen aller Maßnahmen gegen die Summe der kollektiven (u.a. kulturellen, gesundheitlichen, pädagogischen, wirtschaftlichen) Nachteile der Einschränkungen abzuwägen.[20]

Dürfen die Maßnahmen ohne Abstimmung im Parlament angeordnet werden?

Der Umgang mit einer Pandemie ist insbesondere im Hinblick auf die Ausübung von Grundrechten so wesentlich, komplex und folgenreich, dass hierüber das Parlament als demokratischer Gesetzgeber entscheiden muss. Nur die Diskussion möglicher Maßnahmen im Bundestag kann für die notwendige Öffentlichkeit und Rechtssicherheit sorgen. Nur das demokratische Verfahren im Parlament kann sicherstellen, dass die Vielzahl der betroffenen Interessen berücksichtigt wird.

Die Ministerpräsidentenkonferenz ist kein in der Verfassung vorgesehenes Gesetzgebungsorgan, sie wurde erst in der Pandemie geschaffen, hat aber keine gesetzliche Grundlage.  Es ist sinnvoll und auch üblich, dass die Bundesländer miteinander kooperieren, um ihre Angelegenheiten zu regeln. Die Beteiligung des Bundes hieran wird im Hinblick auf die föderalistische Staatsstruktur kritisch gesehen.[22] Denn es ist in der Verfassung klar geregelt, wofür der Bund zuständig ist und was die Aufgaben der Länder sind. Der Bund darf sich nicht in die Angelegenheiten der Länder einmischen, weil er sonst die politischen Entscheidungen vor Ort, also die Arbeit der Landesregierungen, untergraben würde. (Umgekehrt können auch nicht einzelne Bundesländer die Bundespolitik bestimmen.)

Die vom Bundestag beschlossene rechtliche Grundlage für Maßnahmen zum Gesundheitsschutz bietet das Infektionsschutzgesetz. Das Infektionsschutzgesetz war zunächst für zeitlich, regional und personell begrenzte Problemfälle wie z.B. eine verunreinigte Wasserleitung angelegt. Es bot zunächst keine adäquate Rechtsgrundlage für die bundesweite Unterbrechung des öffentlichen Lebens. Insbesondere Kontaktverbote für eine Vielzahl von nicht infizierten Personen waren von diesem Gesetz nicht vorgesehen.

Deswegen wurde dieses Gesetz im März 2020 vom Bundestag geändert.[23] Gegen das neue Gesetz bestehen verfassungsrechtliche Bedenken. Es erfüllt nicht den rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgrundsatz, wenn es nur sehr vage formuliert, wann eine epidemische Lage von nationaler Tragweite vorliegt und wann nicht mehr.[24] Es stellt an leichte Grundrechtseingriffe wie z.B. die Pflicht zum Maskentragen dieselben Voraussetzungen wie für schwere Grundrechtsverletzungen wie etwa das Verbot von Gottesdiensten (§ 28a I IfSG) und wirkt damit in sich selbst unverhältnismäßig. Aus diesem Grund ist es auch problematisch, dass das Gesetz keinen Unterschied zwischen dünn besiedelten Landstrichen und Ballungsräumen macht.[25]

Es gibt dem Bundesgesundheitsministerium eine Blankovollmacht dafür, Ausnahmen von zahlreichen Gesundheitsgesetzen zu machen (§ 5 II 1 IfSG). Damit erhält die Regierung – und nicht das Parlament – weitgehende Entscheidungsbefugnisse. Diese Möglichkeit ist zwar in Artikel 80 GG vorgesehen, darf aber nicht dazu führen, dass sich das Parlament auf diesem Wege selbst entmachtet.[26]

Wie entscheiden die Gerichte bislang?

Mittlerweile gibt es weit mehr als Zehntausend „Corona-Entscheidungen“ allein vor den Verwaltungsgerichten, dazu kommen mehrere Tausend straf- und arbeitsgerichtliche Verfahren aus Anlass der Corona-Verordnungen.[27]  Die Gerichte entscheiden unterschiedlich, denn es kommt auf den Einzelfall an. Oft betonen die Gerichte den Entscheidungsspielraum der Landesregierungen, manchmal äußern sie erhebliche Bedenken an der Rechtmäßigkeit bestimmter Maßnahmen.

Zuständig für „Corona-Verfahren“ sind vor allem die Verwaltungsgerichte. Auch die Arbeitsgerichte sind damit befasst. In mehreren Fällen konnte bereits das Bundesverfassungsgericht angerufen werden. Oft handelt es sich um Eilanträge, die zunächst eher oberflächlich geprüft werden, bevor in einem späteren Verfahren alles gründlich überprüft wird. Hier wird zunächst erklärt, was Eilrechtsschutz ist.

Im Eilrechtsschutz, also bei Eilanträgen, prüfen die Gerichte nur, ob der Antrag in einem ordentlichen Verfahren wahrscheinlich Erfolg hätte. Dabei setzen sich die Gerichte nicht im Detail mit den Gründen auseinander, die für oder gegen die Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Maßnahme sprechen. Stattdessen prüfen sie nur, was die schwereren Nachteile mit sich bringen würden: Wäre es schlimmer, wenn die Maßnahme trotz später festgestellter Verfassungswidrigkeit aufrechterhalten würde, oder wäre es schlimmer, wenn die Maßnahmen aufgehoben würden, obwohl sich später herausstellt, dass sie verfassungskonform waren? Es geht im Eilrechtsschutz also zunächst nur darum, die Schaffung vollendeter Tatsachen zu verhindern. Dabei wird ein besonders strenger Prüfungsmaßstab angelegt. Das bedeutet, dass Eilrechtsschutz nur bei besonders starken Grundrechtsverletzungen greift.[28]

Dazu zwei Beispiele aus der Musikwelt:

Jemand hat beim Bundesverfassungsgericht eine einstweilige Anordnung gegen die Bayerische Corona-Verordnung vom März 2020 beantragt und auch Verfassungsbeschwerde dagegen eingelegt. Zur Begründung führte er an, in seinen grundrechtlichen Freiheiten verletzt zu sein, u.a. weil er nicht mit anderen musizieren könne. Das Gericht lehnte den Antrag am 07.04.2020 ab. Einerseits erkannte das Gericht: Wenn die Verfassungsbeschwerde begründet wäre (was noch zu prüfen ist), wären die Einschränkungen „mit ihren erheblichen und voraussichtlich teilweise auch irreversiblen sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Folgen“ zu Unrecht ergangen. Andererseits verwies das Gericht darauf, dass jedenfalls im Eilrechtsschutz die Gefahren für Gesundheit und Leben die Einschränkungen der persönlichen Freiheit überwiegen. Diese Ansicht untermauert es mit den Hinweisen, dass die Einschränkungen befristet sind, Ausnahmen zulassen und den Behörden bei der Ahnung von Verstößen Ermessen eingeräumt ist.[29]

In München klagte eine Konzertveranstalterin, die zahlreiche Konzerte im Gasteig trotz behördlich anerkannter Hygienekonzepte absagen musste. Ihren Eilantrag lehnte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof ab. Zwar erkennt er einen intensiven Eingriff in die Berufsfreiheit, sieht sich aber nicht in der Lage zu beurteilen, ob die Konzerte angesichts der Pandemie tatsächlich keine Risiken mit sich bringen würden. Deswegen entschied das Gericht am 18.09.2020, jedenfalls im Eilverfahren den Gesundheitsschutz über die finanziellen Verluste der Konzertveranstalterin zu stellen.[30]

Wie entscheidet das Bundesverfassungsgericht?

In seinen Entscheidungen zur „Bundesnotbremse“ (konkret zum 4. Bevölkerungsschutzgesetz, das den neuen § 28b in das Infektionsschutzgesetz einfügte) hat das Bundesverfassungsgericht u.a. die Ausgangssperre und die Schulschließung für rechtmäßig erklärt. Das Gericht billigt aufgrund der Ungewissheit über die Gefährlichkeit des Virus und den Verlauf der Pandemie der Regierung große Handlungsspielräume zu, über die es nicht das Verdikt der Verfassungswidrigkeit verhängt. Konkret am Beispiel der Schulschließungen heißt das:

Das Gericht erkennt zwar, dass es zum Zeitpunkt der Schulschließungen keine Erkenntnisse über den Effekt der bislang getroffenen Schutzmaßnahmen gab und dass digitaler Ersatzunterricht voraussetzungsreich und nur begrenzt wirksam ist: „Bei guter digitaler Ausstattung von Schülern und Lehrkräften und angepassten pädagogischen Konzepten können […] zumindest Fertigkeiten und Wissen auch im Rahmen von Distanzunterricht erfolgreich vermittelt werden“. Es erklärt auch, dass sich digitaler Unterricht in Grundschulen nicht einsetzen lässt: „Die Vermittlung grundlegender Kompetenzen wie Lesen und Schreiben“ hängt „ganz maßgeblich von der Möglichkeit auch direkter Interaktion mit den Lehrern“ ab. Auch die Befristung der Schulschließung wirkt sich auf Grundschüler*innen nicht mildernd aus, da „jeder weitere Erwerb von Fähigkeiten in späteren Bildungsphasen […] auf den in der Grundschule erlernten Fähigkeiten“ aufbaut. Dennoch stellt das Gericht aufgrund der Gefahrenlage den Schutz von Leben und Gesundheit als „Gemeinwohlbelange von überragender Bedeutung“ über die Freiheitsrechte und entscheidet: „Angesichts […] der Unsicherheiten über das Bedrohungspotential der Coronavirus-Pandemie sowie der zu ihrer Bekämpfung angezeigten Maßnahmen war das angegriffene Verbot von Präsenzunterricht nicht unangemessen“.[31] 

Welche Kritik gibt es an den Urteilen?

In der Rechtswissenschaft werden die „Corona-Urteile“ scharf kritisiert. Es wird beobachtet, dass die Urteile eine „geringe Argumentationstiefe“[32] aufweisen und die zentrale Verhältnismäßigkeitsprüfung „eindimensional“[33] und „kaum lege artis“[34] (d.h. fachgerecht) durchführen.

Insbesondere das Bundesverfassungsgericht bleibt von starker Kritik nicht verschont: Es habe in seinen Entscheidungen zur „Bundesnotbremse“ – einem als selten so offenkundig verfassungswidrig eingestuften Gesetz – die tragenden Rechtsfragen ignoriert.[35] Sofern der neue § 28a VI 2 IfSG verlangt, die sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Einschränkungen nur zu berücksichtigen „soweit dies mit dem Ziel einer wirksamen Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) vereinbar ist“, ist diese Regelung offenkundig verfassungswidrig, da sie der Pandemiebekämpfung absoluten Vorrang vor den Freiheitsrechten des Grundgesetzes einräumt.[36] Doch dies habe das Gericht nicht erkannt oder erkennen wollen. Der außerordentlich weite Entscheidungsspielraum, den das Gericht dem Parlament sowohl in Bezug auf die Einschätzung der Virus-Gefahr als auch auf die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einräumt, komme einer Verweigerung verfassungsgerichtlicher Kontrolle sehr nahe. Das Gericht verabsolutiere die Bedeutung von Leib und Leben, sodass Freiheitsrechte in der Abwägung von vornherein keine Chance hatten. Angesichts der vom Bundesverfassungsgericht angenommenen „äußersten Gefahrenlage“ verflüchtige sich der Grundrechtsschutz.[37] Die Unklarheiten in den Gesetzen, die auf einer „handwerklich fehlgeleiteten Gestaltungsfreiheit“ des Parlaments beruhten, kopiere das Bundesverfassungsgericht in seine Verhältnismäßigkeitsprüfung hinein. Damit falle eine wirksame verfassungsgerichtliche Kontrolle der Maßnahmen aus.[38]

Beispiele für erfolgreiche Klagen gegen Corona-Verordnungen

Das Verwaltungsgericht Hamburg beschloss am 10.11.2020, dass die Schließung von Fitnessstudios nicht rechtmäßig war. Denn im Infektionsschutzgesetz fehlt eine konkrete Regelung, die es erlauben würde, unternehmerische Tätigkeiten von Personen zu verbieten, die nichts zur Virusverbreitung beitragen.[39]

Das Oberlandesgericht Oldenburg hat am 11.12.2020 jemanden freigesprochen, der ein Bußgeld für seine Geburtstagsfeier mit sechs Gästen zahlen sollte. Dazu stellte das Gericht fest, dass die in vielen Corona-Verordnungen genutzte Formulierung, jede*r habe soziale Kontakte „auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren“ wegen mangelnder Bestimmtheit ungültig ist. Denn es sei unklar, wofür die Kontakte nötig sein sollen (Spaß? Psychische Gesundheit?) und was der Maßstab für das Minimum ist (der/die Einzelgänger*in oder der gesellige Mensch?). [40]

Das Amtsgericht Ludwigsburg hat am 29.01.2021 entschieden, dass die baden-württembergische Corona-Verordnung in Teilen verfassungswidrig ist. In einem Rechtsstaat könnten Grundrechte nicht ohne parlamentarische Entscheidung auf unvorhersehbare Dauer beschränkt werden, zumal der Bundestag bereits in der vorangegangenen Legislaturperiode auf die Gefahr einer Pandemie hingewiesen worden war und darum viel Zeit für die Schaffung entsprechender gesetzlicher Grundlagen hätte schaffen können. Die zahlreichen und sehr kurzfristigen Änderungen der Verordnung böten nicht die in einem Rechtsstaat erforderliche Verlässlichkeit des Rechts. Man könne nicht davon ausgehen, dass dem/der betroffenen Bürger*in die aktuellen Regelungen bekannt gewesen seien, da selbst Polizist*innen darüber klagten, keinen genauen Überblick über die geltende Rechtslage zu haben.[41]

Dr. Kiyomi v. Frankenberg
BDLO – Bundesverband Amateurmusik Sinfonie- und Kammerorchester e.V.
Erstellt: Mai 2021
Zuletzt bearbeitet: Mai 2023


Fußnoten

[1] Fußnote funktioniert nicht Klaus Rennert, Corona – Corona – und alle Fragen offen: Das Staatsorganisationsrecht in der Krise, Deutsches Verwaltungsblatt 2021, S. 1269.

[2] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1104173/umfrage/todesfaelle-aufgrund-des-coronavirus-in-deutschland-nach-geschlecht/zuletzt abgerufen am 02.05.2022.

[3] https://www.euromomo.eu/graphs-and-maps/#excess-mortality , abgerufen am 02.05.2022.

[4] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1108578/umfrage/intensivmedizinische-versorgung-von-corona-patienten-covid-19-in-deutschland/ , abgerufen am 02.05.2022.

[5] https://jamanetwork.com/journals/jamanetworkopen/fullarticle/2784918 , abgerufen am 20.7.2022.

[6] https://drive.google.com/file/d/19Wqpby9nwMNjdgO4_FCqqlfYyLJmBn7y/view, abgerufen am 03.05.2022; Update 28.11.2023: Dokument ist nicht mehr verfügbar.

[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Wirtschaftskrise_2020%E2%80%932021 , abgerufen am 03.05.2022.

[8] https://www.tagesschau.de/gutachten-sachverstaendigenrat-corona-101.pdf , abgerufen am 20.07.2022.

[9] https://www.tagesschau.de/gutachten-sachverstaendigenrat-corona-101.pdf , S. 95, 105, abgerufen am 20.07.2022.

[10] Beck Online Kommentar Grundgesetz, 44. Auflage Artikel 5, Volker Epping / Christian Hillgruber, Rn. 43.

[11] Hans- Jürgen Papier: Umgang mit der Corona-Pandemie, Aus Politik und Zeitgeschichte 35 – 37/2020 S. 4 ff.

[12] Holger Schmitz/ Carl-Wendelin Neubert: Praktische Konkordanz in der Covid-Krise, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2020, S. 669.

[13] Anna Leisinger-Egensperger: Der legitime Zweck als Bezugspunkt der Verhältnismäßigkeit, Juristenzeitung 2021, S. 922.

[14] Kyrill-Alexander Schwarz: Das Infektionsschutzgesetz und die Grundrechte, Juristische Ausbildung 2020, S. 323; Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 46, 160, 164.

[15] Dietrich Murswiek/Stefan Rixen, in: Sachs Grundgesetz Kommentar, 8. Aufl. 2018, Art. 2 GG Rn. 188.

[16] Michael Sachs, in: Sachs Grundgesetz Kommentar, 8. Aufl. 2018, Art. 20 GG Rn. 46.

[17] Im Einzelfall anders sieht das das Amtsgericht Weimar. Es weist nach, dass in Thüringen die Zahl der Neuinfektionen bereits sank, als die Maßnahmen erlassen wurden und dass genügend Behandlungsplätze auf Intensivstationen zur Verfügung standen, sodass die Kontaktbeschränkungen nicht erforderlich waren, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden. AG Weimar vom 11.01.2021, Aktenzeichen 6 OWi – 523 Js 202518/20.

[18] Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 46, 160, 164.

[19] Oliver Lepsius: Vom Niedergang verfassungsrechtlicher Denkkategorien in der Corona-Pandemie, Vom Niedergang grundrechtlicher Denkkategorien in der Corona-Pandemie – Verfassungsblog zuletzt abgerufen am 28.01.2021.

[20] Murswiek, Dietrich: Die Corona-Waage – Kriterien für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Corona-Maßnahmen, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht – Extra 2021, S. 6.

[22] Kyrill-Alexander Schwarz / Lukas Sairinger: Metamorphosen des Föderalismus in Krisenzeiten, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2021, S. 269.

[23] Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27.03.2020, Bundesgesetzblatt 2020 I, 587 ff.

[24] Thomas Mayen: Der verordnete Ausnahmezustand, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2020 S. 830 ff.

[25] Deutscher Bundestag, Ausschuss für Gesundheit, Ausschussdrucksache 19(14)246(7), Stellungnahme Andrea Kießling S. 4.

[26] Hans Michael Heinig et al.: Why Constitution Matters – Verfassungsrechtswissenschaft in Zeiten der Corona-Krise, Juristen Zeitung 2020 S. 867.

Uwe Volkmann: Das Maßnahmegesetz, Das Maßnahmegesetz – Verfassungsblog , zuletzt abgerufen am 28.01.2021.

[27] Hans Hofmann, Das „Corona-Recht“, Zeitschrift für Gesetzgebung 2021, S. 122.

[28] Rüdiger Zuck, Holger Zuck: Die Rechtsprechung des BVerfG zu Corona-Fällen, Neue Juristische Wochenschrift 2020, S. 2303 ff.

[29] Bundesverfassungsgericht Aktenzeichen 2 BvR 652/20.

[30] Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Aktenzeichen 20 NE 20.2035.

[31] BVerfG v. 19.11.2021 – 1 BvR 971/21, Rn. 147, 156, 159 ff, 180.

[32] Seiler, Christian: Pandemiebedingte Maßnahmen zur Kontaktvermeidung als verfassungsrechtliche Herausforderung, JZ 2021, S. 929.

[33] Holger Greve, Die bundeseinheitliche Notbremse, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2021, S. 667.

[34] Dietrich Murswiek: Die Corona-Waage – Kriterien für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Corona-Maßnahmen, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht – Extra 2021, 5, S. 5.

[35] Lepsius, Oliver: Anmerkung zu BVerfG v. 5.5.21, Juristenzeitung 2021, 957.

[36] Dietrich Murswiek: Die Corona-Waage – Kriterien für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Corona-Maßnahmen, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht – Extra 2021, 5, S. 2.

[37] Ritgen, Klaus: Die Entscheidungen des BVerfG zur „Bundesnotbremse“ und ihre Bedeutung für die künftige Pandemiegesetzgebung des Bundes, Zeitschrift für Gesetzgebung 2022, S. 112 f, 117 f.

[38] Leisner-Egensperger, Anna: Der legitime Zweck als Bezugspunkt der Verhältnismäßigkeit, Juristenzeitung 2021, S. 916.

[39] VG Hamburg Aktenzeichen 13 E 4550/20.

[40] OLG Oldenburg Aktenzeichen 2 Ss (OWi) 286/20.

[41] AG Ludwigsburg Aktenzeichen 7 OWi 170 Js 112950/20.