Dass beim Musikhören mehr stattfindet als eine bloße Aufnahme von Tönen ist der Grund, warum Musik so viele Menschen gleichermaßen begeistert. Wir reagieren auf Impulse, Stimmungen und Andeutungen, haben Assoziationen und Gefühle. Hier kann die Wahrnehmung geschult werden, indem sie gezielt auf bestimmte Aspekte im Stück und der eigenen Emotionalität und Fantasie gelenkt wird. Im Austausch darüber lernen sich Menschen besser kennen, entdecken Gemeinsamkeiten und Unterschiede und neue Perspektiven.
Dabei gibt es verschiedene Vorgehensweisen. Das Stück kann zunächst kommentarlos gehört werden und anschließend mit bestimmten Aufträgen oder Fragen noch ein- oder mehrmals erforscht werden. Hier können auch verschiedene Interpretationen des Stücks verglichen werden. Ein Stück kann aber auch nur einmal gehört und dabei direkt kreativ interpretiert werden (z.B. durch malen oder tanzen). So werden Impulse und Bilder direkt übersetzt und es bleibt weniger Zeit für einschränkende Überlegungen oder Korrekturen.
Ein suggestiver Titel kann entweder zuerst verschwiegen oder aber vor dem Hören genannt und mögliche musikalische Interpretationen des Titels überlegt werden. Welche Stimmung hat das Stück wohl? Welche Instrumente könnten passen? Wird es eher vielfältig oder gleichmäßig sein? Was soll beim Hören wohl ausgelöst werden?
Während des Hörens kann auch eine Visualisierung erfolgen: Das Stück entspricht einer bestimmten Strecke (Laufweg, Papierrolle, Seil…), auf der gewisse Aspekte durch Markierungen oder Bewegungen verdeutlicht werden (Karten auf den Boden legen, stehenbleiben…). Diese Aspekte können hier z.B. Abschnitte, Affektwechsel, Überraschungs- oder Lieblingsmomente sein. Diese Visualisierung kann einzeln nebeneinander passieren oder in nonverbaler Koordination zu zweit oder in der Gruppe. Beim zweiten Hören kann auch die Visualisierung einer anderen Person abgeschritten werden.
Im Stück können mehrere Aspekte wahrgenommen werden. Zum einen Strukturen und Proportionen: Abschnitte, Wechsel, Phrasen, Stimmen, Wiederholungen, Passagen, Konstruktionsmechanismen, Lautstärken, Verhältnisse, Dialoge, Wiederverwendungen, stilistische Floskeln, Momente u.v.m. Diese können auch verfremdet oder verwertet vorkommen: Wo finden sich Variationen, Improvisationen, Neuinterpretationen, Effekte?
Die Wahrnehmung kann sich auch auf die Hörenden und ihre Empfindung und Fantasie richten: Mag ich, was ich höre? Welche Wirkung hat die Musik auf mich? Welche Assoziationen, Bilder, Atmosphären, Erinnerungen, Wörter tauchen auf? Wo ändern sich diese? Wo wurde ich überrascht? Was finde ich besonders? Was wäre ich im Stück? Was würde ich am Stück ändern, ihm hinzufügen oder wegnehmen?
Strukturen, Empfindungen und Assoziationen zusammengenommen – welche Bedeutung könnte das Stück haben? Hat(te) es einen Zweck, ein Ziel? Hat es eine Aussage? In welchen Kontext könnte es passen? Hier können auch ensemble- oder alltagsspezifische Fragen folgen: Welcher Alltagsgegenstand passt zu dem Stück? Welche Stimm-/Satzgruppe? In welchen Lebenssituationen könnten man dieses Stück hören?
Dem Erforschen des Stücks sollte der Austausch über die Aspekte und Vorlieben folgen. Wie kann man das Stück noch empfinden? Wie noch beschreiben? Was habe ich noch überhört? Kann ich alles richtig sein lassen und anderen wertschätzend begegnen? Was wären die anderen gern im Stück und warum? Hier kann auch gemeinsam eine kreative Interpretation überlegt werden, die entweder im Anschluss direkt umgesetzt oder als langfristiges Projekt geplant wird.
Als Stücke eignen sich kurz gesagt: alle. Warum nicht das neue Konzertprogramm so erforschen und kennenlernen? Gewisse Stücke mit besonderem Charakter, Strukturen oder Titeln passen gut zu bestimmten Höraufträgen: Impressionistische Atmosphären, programmatisch-konkrete Erzählungen und Figuren, effekthafte Stücke, besonders konstruierte Stücke, motivische, emotionale, bewegte, wechselhafte, dramatische Stücke…
IMPULSFRAGEN
- Möchten wir unsere eigenen Wahrnehmungen und die der anderen erkunden?
- Welche Stücke möchten wir erforschen und besser kennenlernen?
- Wie soll mit dem Titel umgegangen werden?
- Wie oft wollen wir Interpretationen anhören?
- Soll während des Hörens eine Visualisierung stattfinden?
- Welche Aspekte sollen im Stück erforscht werden?
- Welche Empfindungen, Assoziationen und Bedeutungen sollen erforscht werden?
- Über was möchten wir uns im Anschluss an das Hören austauschen?
- Möchten wir das Stück kreativ interpretieren/in anderen Kunstformen übersetzen?