Improvisieren und Experimentieren passen gut zusammen. Beide leben von der Neugier und bieten Raum für Kreativität. Sie bereichern die musikalische Praxis und regen dazu an, als Ensemble Musik zu erfinden oder zu komponieren und bieten neue musikalische Erfahrungsmöglichkeiten. Dabei können die Einstiege in dieses Musizieren unterschiedlich gestaltet werden.
Zu improvisieren bedeutet, etwas aus dem Stegreif zu erfinden. Damit bei den Musizierenden keine Überforderung aufkommt, empfiehlt es sich, das Ensemble mit überschaubaren Übungen an diese Musizierform heranzuführen. Dabei kann von Übung zu Übung mit dem Improvisationsrahmen oder den Improvisationsregeln gespielt werden, die den Musizierenden zur Orientierung an die Hand gegeben werden. Denn auch freie Improvisation findet immer in einem bestimmten Rahmen statt.
Improvisationsregeln könnten sein: Es spielen immer nur maximal zwei Personen gleichzeitig, jede Person singt/spielt nur zwei verschiedene Töne und variiert diese oder es werden Töne gehalten, auf denen eine Person frei improvisiert (und im Anschluss an eine nächste weitergibt).
Der Improvisationsrahmen kann beispielsweise durch eine zeitliche Vorgabe gesetzt werden („Wir improvisieren bei der nächsten Übung eine Minute frei. Anfang und Ende werden durch ein Signal/Zeichen markiert.“) oder durch das Festlegen einer Reihenfolge und Rolle („Im ersten Durchgang improvisiert Gruppe A, Gruppe B hört zu. Beim zweiten Durchgang wechseln die Rollen.“). Es können auch musikalische Parameter als Fokus der Improvisation gelten („Wie verändert sich die Improvisation, wenn wir auf Pausen achten? Versucht, während der Improvisation mit der Lautstärke zu spielen. Die nächste Improvisation soll möglichst langsam sein.“). Bei der bezogenen Improvisation nimmt man sich musikferne Anker zu Hilfe. Diese Anker können beispielsweise visuell sein (z.B. Fotografien, Kalenderbilder, Videos oder grafische Notationen), aber auch Gedichte und Texte oder Bewegungen können als Inspiration fürs Improvisieren verwendet werden. Eine weitere Möglichkeit ist es, sich zu vorgegebenen Kadenzen oder einer bestimmten Akkordprogression musikalisch auszudrücken. Bei dieser Form von gebundener Improvisation ist man in seiner schöpferischen Freiheit an gewisse Vorgaben gebunden. Dieser klare Rahmen ist sogleich der besondere Reiz und zeigt, wie vielseitig man sich in einer immer gleichen musikalischen Struktur bewegen kann.
Beim Circle Singing werden ebenfalls wiederkehrende, kurztaktige Muster genutzt, um ins gemeinsame Improvisieren zu kommen. Diese musikalischen Muster (Patterns) sind dabei nicht im Voraus vorgegeben, sondern entstehen aus dem Ensemble heraus. Besondere Dirigierformen wie das Sound Painting oder Vocal Painting inspirieren und zeigen Möglichkeiten auf, das Improvisieren in die musikalische Arbeit zu integrieren.
Beim Improvisieren lässt man sich auf Unerwartetes ein und ist fehlerfreundlich und experimentierfreudig. Die Möglichkeiten, Musik experimentell zu entdecken, sind dabei vielseitig. Ein möglicher Zugang ist, mit dem Gegenstand zu experimentieren, auf dem man musiziert. Für Kinder, Jugendliche wie Erwachsene kann es spannend sein, nach Alltagsgegenständen zu suchen, aus denen ungeahnte Klänge, Geräusche und Musik hervorgebracht werden können. Wie kann eine Wasserflasche erklingen? Welche Geräusche sind einem Stück Papier zu entlocken? Das Erforschen der klanglichen Lebenswelt kann sich dabei ganz an dem Interesse der Musizierenden orientieren. Nachdem die Gegenstände und deren Klänge für sich erkundet wurden, können in der Gruppe ähnliche Übungsstrategien wie für das Improvisieren angewandt werden. Das niedrigschwellige Musizieren ohne Instrumente lässt sich auch gut mit dem Musizieren mit Instrumenten verbinden. So können beispielsweise Gruppen mit unterschiedlichem musikalischem Vorwissen oder Erfahrungstand gemeinsam Musik machen.
Auch das eigene Instrument, die eigene Stimme oder der Körper können Ausgangspunkt fürs Experimentieren sein. Wie klingen einzelne Teile meines Instruments? Kann man das Instrument noch anders spielen als gewohnt? Spiegelverkehrt oder auf den Kopf gestellt? Welche Instrumente kann ich mit der Stimme imitieren? Welche Klänge kann ich mit meinem Körper erzeugen? Die neu entdeckten Klänge können im Ensemble vorgestellt werden, um sich gegenseitig zu inspirieren und das neue Klangmaterial allen zur Verfügung zu stellen, bevor es in einem nächsten Schritt beispielsweise in eine One-Minute-Impro (freie Gruppenimprovisation über eine Minute) geht.
Experimentiert werden kann auch mit der Körperhaltung und Position beim Musizieren. Was verändert sich, wenn ich im Liegen spiele/singe? Wie ist das Musizieren in Bewegung? Wie ist es, Rücken an Rücken zu musizieren? Was ändert sich, wenn man ganz nah oder möglichst fern voneinander sitzt? Beim Ausprobieren entstehen immer wieder neue Varianten aus dem Ensemble heraus.
Ein weiter Zugang ist, mit bestehendem musikalischem Material zu experimentieren und zu spielen. Dieses kann Popsongs, Lieder, Klassiker und Volkslieder, einfache Melodien oder bekanntes Notenmaterial sein. Das Material lässt sich verfremden, fragmentieren, ergänzen, verdichten, verkürzen und trennen oder neu zu Collagen zusammensetzen. Der Kreativität und den künstlerischen Strategien sind keine Grenzen gesetzt.
Auch Apps können zum Improvisieren und Experimentieren genutzt werden. Einzelne Klänge, Töne, Rhythmen oder kurze Melodien können beispielsweise durch Sampling-Apps aufgenommen und zu einem Song oder einer Klanglandschaft kreativ zusammengestellt werden. Beat-Maker und ähnliche Apps verwenden Patterns, die dazu dienen, experimentell zu musizieren oder recht einfach eine musikalische Grundlage für einen Song oder ein Stück zu produzieren. Wer mag, kann sich im Anschluss alleine oder in der Gruppe in Improvisationen (Text, Melodien, Rhythmen, Klänge u.v.m.) über seine musikalische oder klangliche Basis üben.
Alle experimentellen Ansätze haben die Neugier und Freude am Erforschen gemeinsam. Musikalische Tabus und Grenzen dürfen überschritten werden, der Perfektionismus kann eine Pause einlegen und wird von der Fehlerfreundlichkeit – sich selbst wie auch den anderen gegenüber – abgelöst.
Improvisieren und experimentelles Musizieren fördern die Kreativität und regen dazu an, Musik erstmalig oder neu zu erleben. Sie schulen auf spielerische Weise kompositorische Fähigkeiten der Musizierenden und bieten Raum zur Mitgestaltung von musikalischen Übungen.
Im Verlauf können aus den Übungen Musikfragmente, Kompositionsideen, Ensemble-Jingles, Rituale oder ganze Musikstücke entstehen oder aber die Musizierform selbst, das Improvisieren, wird als eine ergänzende Aufführungs- und Darbietungsform entdeckt. Durch das Einbinden aller Ensemblemitglieder in den experimentell-gestalterischen Prozess kann das Gruppengefühl aber auch das Selbstbewusstsein der Einzelnen gestärkt werden.
IMPULSFRAGEN
- Sind Alltagsklänge und Geräusche auch Musik?
- Wie erfahren ist das Ensemble im experimentellen Musizieren und Improvisieren?
- Welche Klänge lassen sich noch mit dem Instrument oder der Stimme erzeugen?
- Mit welchen Gegenständen lässt sich experimentell musizieren?
- Zu welchen Bildern oder Fotos ließe sich improvisieren?
- Welche Filmausschnitte könnte man experimentell vertonen?
- Möchten wir mit Apps experimentell musizieren und improvisieren?