Es gibt verschiedene Möglichkeiten, um Abwechslung in die Probenarbeit bringen. Eine davon ist, ohne Notenlesen zu musizieren. Der Einsatz der Methode kann von kurzen Übungen im Warm-Up über das Einstudieren von Repertoire bis hin zur Erarbeitung eigener Musikstücke reichen.
Eines der ersten Zugänge zum Musizieren ohne Noten ist das Auswendigspielen bzw. -singen. Hierbei greift man auf bereits erarbeitete Stücke zurück. Das Sich-Lösen vom Notenpapier ermöglicht es, die Probenarbeit und musikalische Aufmerksamkeit auf andere Aspekte des Musizierens zu richten. Wie ist der Ensembleklang? Wie folgt das Ensemble dem*der Dirigent*in? Wie interagieren wir als Ensemble während des Spielens/Singens miteinander?
Die Unabhängigkeit von den Noten gibt dem Musizieren mehr Freiheit, sowohl im Singen/Spielen als auch in der Bewegung und Inszenierung. Wie könnte sich das Ensemble positionieren, wenn es im Aufführungsraum frei von Notenständern wäre?
Die Aufmerksamkeit kann auf die Mitmusizierenden und Interaktionen, das Dirigat, die Bühnenpräsenzen und die Bewegung im Raum oder auch auf die Wahrnehmung von Raum und Akustik gerichtet werden. Für die Aufführungen und Konzerte stärkt es das Ensemble in der Souveränität, Flexibilität und musikalischen Kommunikation.
Es empfiehlt sich zum Einstieg auf einfaches Repertoire zurückzugreifen, um die Hürden und Herausforderungen des Auswendigspielens für alle Musizierenden handhabbar zu halten. Mit steigender Erfahrung und unter Einbezug des Ensembles kommen mit der Zeit weitere, anspruchsvollere Stücke hinzu. So wird die Freude und Wertschätzung für diese Art des Spielens ensemblegerecht gesteigert.
Das Nachspielen bzw. Nachsingen ist ein weiterer Zugang, um ohne Noten zu musizieren. Beim Einstudieren von neuen Werken kann die musikalische Leitung beispielsweise Passagen, Melodien und Rhythmen mit Call-and-Response-Übungen einzelnen Stimmgruppen ganz ohne Musiknotation vermitteln.
Eine Variation der Methode ist es, das Ensemble stärker in den Vermittlungs- und Probenprozess mit einzubinden, indem einzelne Ensemblemitglieder ihren Stimmgruppen vorspielen bzw. -singen. Dies kann eine mögliche Anwendung beim Erlernen oder Wiederauffrischen von älterem Repertoire in Ensembles finden, die einen Zuwachs oder Mitgliederumbruch erleben. Die Musizierenden können so an ihren verschiedenen Wissensständen abgeholt und in die musikalische Arbeit eingebunden werden.
Beim Nachspielen bzw. Nachsingen können zudem Aufnahmen oder Videos zu Hilfe genommen werden, in denen jedes Instrument bzw. jede Stimme gut zu hören ist. Empfehlenswert sind separate Aufnahmen einer jeden Stimmgruppe. Als Ergänzung dazu können bei Chören Liedtexte zur Orientierung hilfreich sein.
Das Nachspielen/Nachsingen schult das Gehör und gibt einen niedrigschwelligen Zugang zum gemeinsamen Musizieren. Die Möglichkeit führende Rollen an Ensemblegruppen zu vergeben, macht es auch für erfahrene Ensembles attraktiv und bietet eine musikalische Abwechslung mit gruppendynamischem Potential.
Muss Musik immer schon im Voraus notiert sein? Oder kann sie auch aus dem Moment heraus entstehen? Das Improvisieren bereichert die musikalische (Proben-)Arbeit auf verschiedenen Ebenen und vermittelt dabei einen spielerischen und experimentellen Zugang zur Musik.
Beim Improvisieren wird die Kreativität der Musizierenden gefördert, deren kompositorische Fähigkeiten geschult und Raum gegeben, sich kreativ in der Musik auszudrücken. Dies steigert die Ensemblequalität, indem sich Musizierende darin üben, musikalische Zusammenhänge wahrzunehmen und gespielte Noten mit Inhalt und Bedeutung zu füllen.
Das Improvisieren ist spielerisch und an verschiedene Zielgruppen und musikalische Kontexte anpassbar. Dabei ist es hilfreich, einen klaren Improvisationsrahmen zu schaffen. Dieser Rahmen kann durch eine Zeitvorgaben passieren („Es wird eine Minute frei improvisiert, danach steigen wir wieder in die Noten ein“), durch Reihenfolgen („Erst improvisiert Stimmgruppe/Person A, dann B, dann…“), durch Stichworte (z.B. durch Zurufe wie „Liebe“, „Katze“, „Wut“) oder durch Zuhilfenahme von visuellen Ankern wie ausgedruckten Fotos, Postern, Kalenderbildern („Wir improvisieren über die Fotografie vom Wald in der Morgendämmerung“). Übungen mit wiederkehrenden, kurztaktigen Patterns, wie sie im Circle Singing eingesetzt werden, können ein guter Einstieg sein und dem Ensemble einen musikalischen Rahmen für die Improvisationserfahrung geben. Eine weitere Möglichkeit ist es, zu vorgegebenen Kadenzen musikalisch kreativ zu werden.
Nicht selten entstehen aus anfänglichen Improvisationsübungen kurze Jingles, kleine Kompositionen oder Songs, die anschließend auch den Weg in Aufführungen und Konzerte finden können. Aber auch die Improvisation als vollwertige Musizierform erweitert möglicherweise mit der Zeit das Aufführungsrepertoire des Ensembles. Als Teil dieser musikalischen Arbeit und des Ausdrucks können Improvisationen als Intro oder Outro von Musikstücken eingesetzt werden. Besonders gehaltene Akkorde oder Kadenzen eigenen sich dazu, solistisch über sie zu improvisieren – auch während eines Stücks. Darüber hinaus können ganze Musikstücke zu einem Gedicht oder Bild im Konzert improvisiert werden. Besondere Dirigierformen wie das Sound Painting oder Vocal Painting inspirieren und zeigen Möglichkeiten auf, das Improvisieren in die musikalische Arbeit zu integrieren.
Das Musizieren ohne Noten ist eine bereichernde Ergänzung für die Musizierpraxis, um dem Ensemble neben notenbasiertem Spielen auch freiere und kreativere Musizierformen anzubieten. Durch das Weglassen von Notenmaterial werden andere Bereiche der Musikalität adressiert und das schafft Abwechslung und Vielseitigkeit in der Probenarbeit.
Musizieren ohne Noten kann darüber hinaus eine Chance sein, neue Zielgruppen zu erreichen. Das Musizieren basierend auf dem Notenlesen kann für manche ein Hindernis sein, sich dem Ensemble/Verein anzuschließen. Ein Ensemble, das sich möglicherweise ganz oder teilweise einer notenfreien Musizierform verschreibt, bietet daher ein Angebot an Zielgruppen, für die bislang keine oder wenige Musizierangebote existieren.
IMPULSFRAGEN
- Welches vorhandene Repertoire eignet sich zum Auswendigspielen bzw. -singen?
- Zu welchem Anlass wäre es schön, ein auswendig gespieltes Stück choreografisch auszugestalten?
- Wie könnte sich das Ensemble noch positionieren, wenn es im Aufführungsraum frei von Notenständern wäre?
- Welche Passagen können vom Ensemble selbst durch Nachspielen/Nachsingen erarbeitet werden?
- Zu welchem Stück würde ein improvisiertes Intro passen?
- Welches Stück könnte durch einzelne Soli verziert werden?