PROBEN NEU DENKEN: Partizipatives Proben

In jeden Teil der Ensemblepraxis schleichen sich mit der Zeit Gewohnheiten ein. So auch bei der Probengestaltung. Um aus den Routinen herauszukommen, werden Workshops und Coachings genommen. Eine unterschätzte Ressource ist das Ensemble selbst, das durch die Einladung zur Probenmitgestaltung neue Impulse setzen kann. Die vorliegende Methode möchte den Mehrwert aufzeigen, den das partizipative Proben für das Ensemble als auch die Leitung bietet. 

Mit dem Gedanken die Probenarbeit teilhabend zu gestalten, geht einher, die Rolle und Verantwortung der musikalischen Leitung zu überdenken und sie für das Ensemble zu öffnen. Bestimmte Probenabschnitte wie das Einsingen, Warm-Up und Cool-Down oder Einführungen in ein neues Repertoire, Thema oder Genre könnten von einzelnen Ensemblemitgliedern oder Kleingruppen durchgeführt werden. Auch das Vorspielen/Vorsingen von Passagen oder sogar das Dirigat können zeitweise vom Ensemble selbst übernommen werden. Diese Angebote der Beteiligung können zunächst punktuell ausprobiert werden, um neue Erfahrungen und Strukturen zu ermöglichen und dabei weiter den bekannten Probenablauf zur Orientierung und für die Gewohnheit zu gewährleisten. Im Verlauf verbinden sich neue Impulse mit der bewährten Probenarbeit zu neuen Probenformen. 
Aus diesen Überlegungen ergeben sich neue Probenbausteine/-methoden. Das Ensemble coacht sich gegenseitig und die Mitglieder werden zu eigenen Expert*innen, leiten und erfinden Übungen, führen eigenständig Stimmproben durch und übernehmen somit temporär die Rolle der Leitung. Das Proben in Kleingruppen/Stimmgruppen unabhängig von der Leitung ermöglicht eine effektive und konstruktive Arbeit für das ganze Ensemble, wobei die Gruppenproben synchron (zeitgleich) wie asynchron (zeitunabhängig) stattfinden können. Die Ensembleleitung unterstützt dabei die partizipativen, eigenständigen Ensembleprozesse mit dem Verständnis, dass diese Erfahrungen und Kompetenzen die Ensemblequalität nachhaltig prägen und verbessern.
Nicht nur in Chören, sondern auch in größeren Instrumentalensembles kann ein Proben ohne Dirigent*in die musikalische Qualität des Orchesters verbessern und neue Aspekte in die Probenarbeit einbringen. Dabei ist es sinnvoll, dass sich das Orchester nach innen gerichtet (z.B. zu den Hörnern oder Trompeten) aufstellt und somit eine Kommunikation über Gesten und Mimik stattfinden kann. Dies schult das Gehör und die Musizierenden lernen das Stück noch einmal auf eine ganz neue Art und Weise kennen. 
Um die Stimmenverteilung fair und inklusiver zu gestalten, ist es wichtig, dass auch neue Mitglieder oder schwächere Musiker*innen eingebunden werden und nicht immer die Gleichen die Soli oder die “letzte” Stimme bekommen. Denn das Können wächst bekanntlich nur mit Herausforderungen und jede*r sollte die Chance bekommen, sich musikalisch in seinem/ihrem Ensemble weiterzuentwickeln. Dazu können sich die Register bzw. Stimmgruppen untereinander beraten und gegebenenfalls digitale Werkzeuge (wie Doodle, Google Docs, Excel etc.) als Hilfestellung zur Absprache und Dokumentation nutzen.  
Zu dem partizipativen Proben gehört auch das Einbinden des Ensembles in musikalische Entscheidungen. Wie kann das Werk interpretiert werden? Gibt es Beispiele dafür, die euch bekannt sind? Wie würdet ihr die Passage phrasieren? In welcher Reihenfolge könnten die Musikstücke aufgeführt werden? Durch diese oder ähnliche Fragen wird das Ensemble ermutigt, über relevante Musikparameter nachzudenken, und tritt in einen gruppendynamischen Lernprozess ein. 
Diese selbstbestimmte Probenarbeit kann auf das gemeinsame Ausarbeiten von Probenzielen ausgeweitet werden. Im Dialog mit der Ensembleleitung können Meilensteine festgelegt werden, die in der anstehenden Probenphase erreicht werden sollen. Das Ensemble kann dabei mitentscheiden, welche musikalischen Schwerpunkte erstrebenswert wären und wie diese erreicht werden könnten. Aus diesem Austausch entsteht ein verbindlicher Fahrplan, in dem auch Aufgaben und Arbeitspakete, abgeleitet von den Meilensteinen, festgehalten werden können. Das Bekenntnis (commitment) zu gemeinsamen kurz-, mittel- oder langfristigen Zielen steigert die Wahrscheinlichkeit diese zu erreichen. 

Partizipative Probenarbeit hat viele Vorteile: Sie entlastet die Ensembleleitung, indem Verantwortlichkeiten und Aufgaben auf mehrere Schultern verteilt werden. Die Rollen der Leitung und des Ensembles kommen sich näher, wodurch man den Ensemblemitgliedern ermöglicht, ihre eigene Lebenswelt mitzugestalten. Sie werden als Expertinnen und Experten gesehen und erfahren Selbstwirksamkeit. Dies stärkt das Gemeinschaftsgefühl und steigert die Identifikation mit und Zugehörigkeit zu dem Ensemble. Der Einstieg ins partizipative Proben ist somit auch eine Methode zur Mitgliederbindung. 
Durch die Abgabe von Verantwortung für musikalische Aufgaben werden darüber hinaus dem Ensemble Kompetenzen zugesprochen und vermittelt. Langfristig steigert dies die musikalische Qualität und das musikalische Verständnis der gesamten Gruppe sowie jedes einzelnen Ensemblemitglieds. 

Durch die Pandemie steht die Vereins- und Probenarbeit vor neuen Herausforderungen. Das Erarbeiten und Durchführen von Hygienekonzepten, das Vorbereiten von Probenräumen, die Organisation von Probenpaketen für reduzierte Ensemblegruppen, Überlegungen zu alternativen Probenformaten, das Schneiden von Videos oder das Einrichten von Softwareprogrammen sind nur wenige Beispiele für die neuen Anforderungen, die die aktuelle Situation mit sich bringt. Im Ansatz des partizipativen Probens können mögliche Lösungsansätze stecken, die darin bestehen, das ganze Ensemble als Ressource für die vielfältigen Fragen und Aufgaben zu verstehen. Ein Einbinden vieler entlastet die Schultern der Verantwortlichen und erweist sich in krisenhaften Situationen als agil, widerstandsfähig und resilient.  

IMPULSFRAGEN 

  • Welchen Rollen und Aufgaben möchte ich als Leiter*in abgeben?
  • Was würde mich entlasten? Wo brauche ich selbst neuen Input?  
  • Zu welchem Anlass könnten gemeinsame Ziele erarbeitet werden? 
  • In welchen Bereichen gibt es Expert*innen im Ensemble?  
  • Wer kann von wem lernen?  
  • Womit kann ich das Ensemble ermutigen? 
  • Wer möchte sich wie ausprobieren?