Es gibt nur wenige Musiker*innen, die das Gefühl des Lampenfiebers oder der Auftrittsangst nicht kennen. Die meisten jedoch haben dies in ihrer künstlerischen Laufbahn erfahren: ein trockener Mund der Sängerin, die verkrampfte Kiefermuskulatur des Saxophonisten, die zitternde Hand des Dirigenten oder einer Klavierspielerin – es gibt viele Auswirkungen, die sich zum Teil sehr stark äußern und einen Auftritt sogar unmöglich machen können. Und jede*r einzelne Musiker*in könnte darauf natürlich gut darauf verzichten.
Was passiert im Körper, wenn das Lampenfieber sich bemerkbar macht? Zur Beruhigung: Die geistige und körperliche Anspannung angesichts des bevorstehenden Auftritts ist zunächst einmal eine natürliche Reaktion, die sich im Laufe der menschlichen Evolution entwickelt hat. Sie hatte den Sinn, in einer gefährlichen Situation eine Fluchtreaktion zu erzeugen und dadurch das Überleben zu sichern. Auch kurz vor einem Auftritt kann ein Mensch diese körperlichen Symptome entwickeln. Schweißausbrüche, Zittern, Herzklopfen und Erröten, aber auch Konzentrationsstörungen, Blockaden und echte Angst können auftreten und treffen in ihren Auswirkungen bestimmte Gruppen von Künstler*innen empfindlicher als andere.
Für den Umgang mit Lampenfieber gibt es einige Tricks und Übungen, die helfen können, wieder unbeschwert auftreten und musizieren zu können. Die beste Voraussetzung für eine gute und sichere Performance ist die konsequente Vorbereitung. Dazu gehört neben dem regelmäßigen Üben am Instrument oder mit der Stimme auch, das Programm so oft wie möglich vor Publikum vorzutragen. So kann man eventuelle Schwachstellen aufspüren, Probleme lösen und sich an die Auftrittssituation gewöhnen. Denn wer häufig ein bestimmtes Stück vorspielt oder den Auftritt probt, kann seine Angst davor nach und nach immer besser bewältigen – man übt also im Prinzip den “Auftritt durch den Auftritt” und verschafft sich mit jeder Wiederholung weitere Sicherheit.
Vielen Musiker*innen hilft mentales Training. Dabei stellt man sich vor, wie man in einer bestimmten Situation denken, handeln und fühlen würde. Man visualisiert ein bestimmtes Ziel – also die Prüfung, das Vorspiel oder das Konzert – und sieht vor sich, wie schwierige Passagen gelingen, jeder Ton genau getroffen wird oder eine Melodie besonders schön klingt. Vielen Instrumentalist*innen hilft das sogenannte ideomotorische Training, bei dem man sich genau vorstellt, wie eine Bewegung abläuft und wie sie ausgeführt wird. Sänger*innen wenden diese Technik an, indem sie ein Stück körperlich-technisch durchgehen.
In diesem Zusammenhang nimmt das Auswendigspielen oder -singen noch einmal eine besondere Rolle ein. Hier hilft es, Text- und Stückabläufe häufig durchzugehen und sich bestimmte Stellen als “Anker” zu merken, z.B. den Anfang einer Strophe, den Beginn eines Satzes oder eine bestimmte Harmonieabfolge.
Direkt vor dem Auftritt helfen Entspannungsübungen, die sich auch sehr gut in einer Gruppe durchführen lassen. Eine der effektivsten und schnellsten Entspannungsübungen ist die tiefe Bauchatmung: man setzt sich aufrecht hin, legt eine Hand auf den Bauch, schließt die Augen und atmet auf einen Atemzug fünf Sekunden lang ein und möglichst lang wieder aus. Schon nach wenigen Minuten tritt die gewünschte eine tiefe Entspannung ein.
Die progressive Muskelentspannung nach Jacobsen beruht auf dem Prinzip von Spannung und Entspannung. Nach und nach werden alle Körperteile von den Füßen bis zum Kopf für einige Sekunden angespannt und bewusst wieder losgelassen. Diese Übung kann man im Sitzen und im Liegen durchführen. Autogenes Training funktioniert ähnlich: man wandert gedanklich durch den Körper und stellt sich bei jeder Gliedmaße Schwere oder Wärme vor. Dadurch lenkt man sich selbst von der Anspannung ab und wird nach und nach ruhiger und gelassener.
Auch ganz einfache Tricks wie das Händewaschen unter warmem Wasser, ein bestimmtes Ritual wie ein kurzer Spaziergang oder ein paar einfache Dehnübungen vor dem offenen Fenster können schon hilfreich sein, uns auf uns selbst zu konzentrieren. Auch der Gruppe helfen Rituale: Etwa das Versammeln und gemeinsame Fokussieren direkt vor dem Auftritt sowie ein motivierender, Ensemble-eigener Spruch oder Ruf, ähnlich wie einem Sportteam.
Diese Herangehensweisen können auch den Tag über helfen: Es ist gut, seine Nervositätsschübe zuzulassen und die Spannung dann ein wenig abzubauen, durch leichten Sport, auf der Stelle laufen, Rituale oder Entspannungsübungen. Dabei sollte darauf geachtet werden, dass sowohl der Körper als auch der Geist nicht überanstrengt werden: Weder den Tag nur auf der Couch liegen, noch einen Berg besteigen oder die Steuererklärung machen. Um sich zu schonen bzw. nicht zu gefährden, sollten Sänger*innen lange Telefonate vermeiden, Instrumentalist*innen Handwerksarbeit. Eine längere Pause vor dem Konzert hilft vielen, wer dabei kurz schlafen oder einen Kaffee trinken möchte, sollte gut beobachten, wie sich das auf den Körper beim Auftritt auswirkt.
Vor dem Auftritt geht jede*r Musiker*in mit der Bewältigung des Lampenfiebers oder seiner Nervosität anders um. Die einen stehen unter höchster Anspannung und möchten diese auch gerne mit anderen teilen, suchen die Nähe von vertrauten Mitspieler*innen, der Gruppe oder des Ensembles. Andere sind am liebsten ganz bei sich und möchten niemanden hören, sehen oder sich unterhalten, möchten in Ruhe ihre Übungen machen, sich konzentrieren oder einfach gar nichts tun. Es ist wichtig, die Befindlichkeiten in einer Gruppe miteinander zu besprechen und aufeinander Rücksicht zu nehmen.
Sollten sich Probleme verfestigen und zu einer Auftrittsangst führen, sollte fachtherapeutische Hilfe in Anspruch genommen werden. So hat zum Beispiel das Freiburger Institut für Musikermedizin ein multimodales Therapiemodell entwickelt, bei dem unterschiedliche Therapieansätze mit bühnenpraktischen und musikalischen Inhalten und Übungen kombiniert werden.
Fazit: Niemand ist vor Lampenfieber oder Auftrittsangst sicher. Aber mit ein paar Methoden der Entspannung und Ritualisierung kann man sich gut selbst helfen und einen Auftritt (wieder) genießen. Ob man sich allein oder in der Gruppe vorbereitet und welche Übungen sich dafür am besten eignen, sollte einfach ausprobiert werden. Jede*r kann dann für sich entscheiden, wie sie oder er längerfristig damit umgeht. Die Freude, anschließend befreit mit anderen und für andere musizieren zu können, ist ein weiterer Ansporn und wird bestimmt auch mit viel Applaus belohnt.
IMPULSFRAGEN
- Welche Entspannungstechniken gibt es? Welche davon spricht mich an?
- Wie könnten wir Entspannungstechniken in einer Gruppe anwenden?
- Wie können wir in der Gruppe über Lampenfieber sprechen?
- Welche Auftrittsrituale habe ich? Welche davon tun mir gut und welche könnte ich ausprobieren?
- Was tut mir gut am Tag des Auftritts?
- Was brauche ich direkt vor dem Auftritt – möchte ich lieber in der Gruppe oder alleine sein?
- Wer in meinem Ensemble könnte beim Thema Lampenfieber etwas Unterstützung brauchen?
- Könnte professionelle Hilfe das Richtige für mich sein?