Herrenberg-Urteil

Das Urteil grenzt eine freiberufliche Lehrtätigkeit von einem Angestelltenverhältnis ab. Kriterien sind zum Beispiel die Eingliederung in die Arbeitsorganisation, das unternehmerische Risiko und die Weisungsgebundenheit. Wir stellen alle wichtigen Infos über das Verfahren für Vereine zusammen.

Das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 28. Juni 2022 hat weitreichende Konsequenzen für die musikalische Bildung und die Amateurmusik in Deutschland. Das Gericht entschied inm Herrenberger Fall, dass eine Lehrkraft an einer Musikschule als abhängig Beschäftigte anzusehen ist, da die Bedingungen für eine echte selbstständige Tätigkeit nicht gegeben waren. Als Folge mussten Sozialversicherungsbeiträge nachgezahlt werden. Das Herrenberg-Urteil führte zu einer Neubetrachtung der Kriterien für abhängige und selbständige Beschäftigungsformen.1 Insbesondere für Anbieter und Honorarkräfte im Bereich der (kulturellen) Bildung ist eine Justierung der Kriterien zur Vermeidung einer Scheinselbständigkeit nun wichtig. Welche Kriterien sind gemeinhin bedeutsam zur Beurteilung?

Inhalt

Bedingungen einer echten Selbständigkeit

Selbständigkeit geht im Allgemeinen mit unternehmerischer Entscheidungsfreiheit und gleichermaßen unternehmerischen Risiken oder Chancen einher. Eigenwerbung wird betrieben. Zu den typischen Merkmalen selbständigen unternehmerischen Handelns gehören u. a. diese:

  • Leistungen werden im eigenen Namen und auf eigene Rechnung erbracht.
  • eigenständige Entscheidung über das Honorar bzw. die Vergütung
  • unabhängige Entscheidung über den Einsatz von eigenem Personal anstelle der persönlichen Leistungserbringung
  • Einsatz von Kapital und sonstiger eigener Betriebsmittel
  • Zahlungsweise der Kunden (z. B. sofortige Barzahlung, Stundungsmöglichkeit, Einräumung von Rabatten)
  • Art und Umfang der Kundenakquisition
  • Art und Umfang von Werbemaßnahmen für das eigene Unternehmen (z. B. Benutzung eigener Briefköpfe)
  • Freiheit der organisatorischen und künstlerischen Entscheidungen

Bedingungen einer abhängigen, bzw. unselbstständigen Tätigkeit

Abhängig Beschäftigte*r ist, wer weisungsgebunden vertraglich geschuldete Leistungen im Rahmen einer von seinem Vertragspartner bestimmten Arbeitsorganisation erbringt. Dafür spricht:

  • dienende Teilhabe am Arbeitsprozess gemäß einer Stellenbeschreibung oder Funktion,
  • Eingliederung in den Betrieb,
  • keine Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft,
  • keine im Wesentlichen freigestaltete Arbeitstätigkeit,
  • Fremdbestimmtheit der Tätigkeit,
  • keine eigene Betriebsstätte,
  • keine Tragung eines Unternehmerrisikos,
  • Vereinbarung von Urlaub,
  • Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.

Je mehr Anhaltspunkte einer abhängigen Arbeit sich im Vertrag wiederfinden, desto eher stuft die Rentenversicherung das Vertragsverhältnis wahrscheinlich als unselbstständig ein. Dazu dient das Statusfeststellungsverfahren.

Statusfeststellungsverfahren

Eine Clearingstelle, zum Beispiel die der Deutschen Rentenversicherung, klärt, ob eine abhängige oder selbständige Tätigkeit vorliegt. Dafür ist normalerweise ein Antrag auf Feststellung des Erwerbsstatus zu stellen. In dem dreimonatigen Verfahren werden die Verhältnisse hinsichtlich der oben genannten Kriterien im konkreten Einzelfall geprüft. Die am Verfahren beteiligten können sich zur Entscheidung äußern.2

Das Herrenberg-Urteil bringt eine Neubetrachtung der Feststellungskriterien mit sich, die Auswirkungen auf die Beschäftigungsstruktur in Lehreinrichtungen und Musikvereinen haben wird.

Was bedeutet das Urteil für die Musikschulen und Vereine?

In mehreren Fachgesprächen haben Vertreter*innen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, der Deutschen Rentenversicherung und von Verbänden aus dem Bildungsbereich Kriterien und Organisationsmodelle für eine selbständige Tätigkeit von Lehrkräften sowie gesetzgeberische Maßnahmen abgewogen.

Ein Ergebnis der durch das Herrenberg-Urteil angestoßenen Verfahren und Aushandlungen kann die Stärkung der musikalisch-pädagogischen Versorgung durch eine Umwandlung der Anstellungsverhältnisse sein.

So schätzt etwa der Deutsche Musikrat, dass die Musikschularbeit mit abgesicherten Lehrkräften, die sich für die kulturelle Bildung in einer Kommune engagieren, eine Investition in die nachkommenden Generationen und für alle Bürgerinnen und Bürger ist.3 Festanstellungen verringern demnach u.a. die Gefahr von Altersarmut und damit auch die finanzielle Belastung der öffentlichen Kassen. Mit einem derartigen Wandel in Festanstellungen haben beispielsweise die Musik- und Kunstschule in Bielefeld und die Musikschule Leipzig auf das Urteil reagiert, die daraufhin sämtlich Honorarkräfte fest angestellt haben. Aber nicht für alle Lehrkräfte, kommunalen und freien Einrichtungen oder auch Musikvereine kommt eine Umwandlung in Festanstellungen in Frage. Auch in diesen Fällen muss es eine rechtssichere Möglichkeit geben, Honorarkräfte selbstständig zu beschäftigen.

Bundestagsbeschluss vom 30.01.2025 erwirkt eine Übergangslösung bis Ende 2026

Seit der Einigung auf eine Übergangsfrist bis Ende 2026 mit dem Bundestagsbeschluss vom 30.01.2025 sind zunächst Statusfeststellungsverfahren zum Stichtag des Urteils in betreffenden Betrieben ausgesetzt. Individuelle Prüfungen werden allerdings weiterhin durchgeführt.

In der Übergangsfrist sollten Auftraggeber*innen und -nehmer*innen gegebenenfalls bei Vertragsschluss untereinander schriftlich vereinbaren, ob von einer selbstständigen Tätigkeit ausgegangen wird. Bis zum Auslaufen der Übergangsregelung müssen die Bildungsträger keine Sozialversicherungsbeiträge zahlen, wenn Bildungsträger und Lehrkräfte bei Vertragsschluss von Selbständigkeit ausgegangen sind.4 Die Rechte der Lehrkräfte bleiben gewahrt, da die Übergangsregelung nur bei ihrer Zustimmung zum Tragen kommt. Rückforderungen von Sozialversicherungsbeiträgen sind bis Ende 2026 nicht umsetzbar.

Nach dieser Regelung sind Honorarverträge in der Amateurmusik für zum Beispiel Ensembleleitung oder Lehrtätigkeiten also weiterhin möglich, wenn die Vertragsparteien bei Vertragsschluss übereinstimmend von einer selbstständigen Tätigkeit ausgehen, und die Betroffenen dem schriftlich zustimmen. Die Übergangsregelung bietet den Auftraggeber*innen für eine etwaige Umwandlung der Honorarverträge in Angestelltenverhältnisse eine gewisse Vorlaufzeit.5 Musikvereine bzw. Auftraggeber*innen müssen aber auch in diesem Zeitraum unbedingt rechtssichere Lösungen für die bislang selbständigen Mitarbeiter*innen finden.

Was sollten die Vereine jetzt beachten?

Vereine müssen entscheiden, ob sie weiterhin freiberufliche Lehrkräfte einstellen oder auf festangestellte Mitarbeiter*innen setzen. Rechtssicherheit gerade für kleine Vereine bieten aktuell alternativ sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse oder aber – nach dem Ende der Übergangsfrist – Statusfeststellungsverfahren zu Beginn einer Anstellung.

Möglich wäre auch weiterhin, sofern im konkreten Einzelfall nichts dagegenspricht, im Vertrag festzuhalten, dass es sich um die Tätigkeit „Chorleiter*in“ handelt. Diese ist gemäß Rundschreiben der Spitzenverbände vom 21.03.2019 im Katalog bestimmter Berufsgruppen zur Abgrenzung zwischen abhängiger Beschäftigung und selbständiger Tätigkeit (vgl. § 7 SGB IV Anlage 1) als selbstständige Tätigkeit eingeordnet.6

Antje Sandmann
Bundesmusikverband Chor & Orchester e. V. (BMCO)
Erstellt: März 2025

Fußnoten

  1. https://www.deutsche-rentenversicherung.de/DRV/DE/Ueber-uns-und-Presse/Presse/Meldungen/2025/250214-bundesrat-uebergangsregelung-lehrtaetigkeit.html ↩︎
  2. https://www.deutsche-rentenversicherung.de/DRV/DE/Rente/Arbeitnehmer-und-Selbststaendige/03_Selbststaendige/statusfeststellungsverfahren.html ↩︎
  3. https://www.musikrat.de/media/aktuelles/meldung/musikschultraeger-in-der-verantwortung ↩︎
  4. https://www.bmas.de/DE/Service/Presse/Meldungen/2025/sozialvers-pflicht.html ↩︎
  5. https://uni-sono.org/oeffentliche_meldungen/uebergangsfrist-fuer-honorartaetigkeit-an-musikschulen/ ↩︎
  6. https://rvrecht.deutsche-rentenversicherung.de/SharedDocs/rvRecht/01_GRA_SGB/04_SGB_IV/pp_0001_25/gra_sgb004_p_0007_a01.html#doc1576174bodyText18 ↩︎